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erstellt am:
28.05.2010
HANNOVER. Heute (Freitag) hat Niedersachsens Umweltminister Hans-Heinrich Sander eine wissenschaftliche Expertise zur Vorauswahl des Standortes Gorleben vorgestellt, die sich auf den Zeitraum vom 1. Januar 1976 bis zum 22. Februar 1977 bezieht. Erstellt wurde die Studie „Gorleben als Entsorgungs- und Endlagerstandort – Der niedersächsische Auswahl- und Entscheidungsprozess“von dem Historiker Dr. Anselm Tiggemann, im Auftrag des Niedersächsischen Ministeriums für Umwelt und Klimaschutz.
„Die Studie belegt, dass die Verschwörungstheorien jeder Grundlage entbehren, Gorleben also wissenschaftlich fundiert ausgewählt wurde“, erklärte Sander. „Ich hoffe sehr, dass diese Erkenntnisse zur Versachlichung der Diskussion beitragen - sowohl in Niedersachsen als auch in Berlin. Wir setzen jedenfalls auf Transparenz, insbesondere für die Bevölkerung im Wendland.“ Mit dieser Studie seien nun die Entscheidungsschritte und Kriterien nachvollziehbar, nach denender Standort Gorleben ausgewählt wurde.
SYNOPSE: „Gorleben als Entsorgungs- und Endlagerstandort – Der niedersächsische Auswahl- und Entscheidungsprozess“,
Expertise 1976/77 von Dr. Anselm Tiggemann
1. Energiepolitischer Hintergrund des Standortauswahlprozesses in den Jahren 1976 und 1977
Nach einem jahrelangen Streit über die Finanzierung und Durchführung des „Entsorgungszentrums“ waren die Kernkraftwerksbetreiber durch die von der Bundesregierung angekündigte Kopplung von Bau und Betrieb mit der Entsorgung von Kernkraftwerken zu einem Engagement gezwungen. Als die Kernkraftwerksbetreiber im Jahre 1976 das Projekt angingen und finanzierten, geriet die Bundesregierung wegen der Standortauswahl in Zugzwang ("Beweislastumkehr" gegenüber der Energiewirtschaft).
2. Die Aufnahme des Standorts Gorleben in den niedersächsischen Standortvorauswahlprozess
Bei der Standortauswahl der KEWA (Kernbrennstoffwiederaufarbeitungsgesellschaft mbh) im Auftrag des Bundes war Gorleben wegen der „Lage im Ferien- bzw. Erholungsgebiet“ bereits am Anfang ausgeschieden. Nachdem im Niedersächsischen Wirtschaftsministerium im Laufe des Jahres 1975 Bedenken gegen die von der KEWA ausgewählten Standorte Wahn (Bundeswehrerprobungsstelle mit Schießplatz), Lutterloh (überregionale Bedeutung des Grundwasservorkommens) und Lichtenhorst (Grundwasservorranggebiet für Hannover) auftraten, wurden der KEWA mehrere alternative Standortmöglichkeiten, darunter Gorleben, im Winter 1975/76 mitgeteilt. Hinzu kam der massive Widerstand durch die Kommunalpolitik und die Bevölkerung im Emsland (am Standort Wahn) ab Januar 1976, der das „Entsorgungszentrum“ schlagartig zu einem Landespolitikum machte.
Die KEWA untersuchte bis November 1976 acht alternative Möglichkeiten und verglich sie mit den zuvor ausgewählten Standorten. Gorleben rangierte hier an erster Stelle. (Beste Kennziffer Gorleben 1,5 bzw. 2,0, gegenüber 3,5 bei Wahn und Lutterloh und 3,5 bzw. 4,5 bei Lichtenhorst), nachdem auf das Ausschluss-Kriterium „Lage im Ferien – bzw. Erholungsgebiet“ verzichtet worden war.
Das Landeskabinett beauftragte den Interministeriellen Arbeitskreis (IMAK) neben den drei ursprünglichen Standorten und Gorleben weitere Möglichkeiten zu ermitteln und zur Entscheidungsvorbereitung in einer Kabinettsvorlage darzulegen.
3. Auswahl weiterer Standortmöglichkeiten durch den IMAK
Im Niedersächsischen Wirtschaftsministerium wurden zunächst neben den drei ursprünglichen Standorten Wahn, Lutterloh und Lichtenhorst sowie Gorleben 19 Salzstöcke in Niedersachsen ermittelt, über denen ein 3 mal 4 km großes siedlungsfreies Gelände vorhanden war, wo keine konkurrierende Nutzung vorlag (anhand der Salznutzungskarte und der regionalen Raumordnungsprogramme).
Im nächsten Schritt wurden diese 23 Möglichkeiten danach bewertet, wie gut sie Kriterien (Lage des Betriebsgeländes über dem Salzstock, Teufenlage und Größe des Salzstocks sowie Oberflächenbesiedlung und -struktur) erfüllten. Von den 16 Standorten, die anhand einer Punktwertung am besten abschnitten, wurden anschließend vier Standorte wegen offensichtlicher Mängel ausgeschieden. Eine Bewertung unter Einbeziehung strukturpolitischer Kriterien ergab wie bei der KEWA eine Spitzenstellung für Gorleben. Die verbleibenden 12 Standorte wurden mit dem Landesamt für Bodenforschung erörtert, das anregte, sowohl Odisheim als auch das zur Schließung anstehende Salzbergwerk Mariaglück (Salzstock Höfer) mitzubetrachten.
Im IMAK wurde ein Kriterienkatalog diskutiert und festgelegt. Die Standorte wurden am 1. Dezember 1976 im IMAK besprochen. Sieben Standorte wurden ausgeschieden, weil sie eines oder mehrere Kriterien nicht erfüllten. Es wurden auch mögliche Beeinträchtigungen diskutiert, bei Gorleben z.B. die Lage unter dem Flugkorridor Hamburg-Berlin, die Lage an der geplanten BAB-Trasse Hamburg-Berlin und die Lage des Salzstockes unter der Elbe.
Am 2. Dezember 1976 wurden die Standorte mit der Projektgesellschaft Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen mbh (PWK) und einem Beamten vom BMFT (Bundesministerium für Forschung und Technologie) durchgesprochen. Gorleben galt sowohl PWK als auch BMFT als „geeignetster“ Standort. Der Vertreter des Bundes wies einschränkend auf die DDR-Problematik (Grenznähe) hin.
4. Die Auswahl Gorlebens durch die niedersächsische Landesregierung
In der Kabinettsvorlage vom 9. Dezember 1976 wurde empfohlen, die vorläufige Standortwahl auf der Basis der Möglichkeiten Gorleben, Lichtenhorst, Mariaglück und Wahn zu treffen. In den Monaten Januar und Februar wurden von der IMAK sowohl standortbezogene als auch allgemeine Fragestellungen bearbeitet, wie eine internationale Lösung der Wiederaufarbeitung oder Standortmöglichkeiten für das Entsorgungszentrum außerhalb Niedersachsens. In der Kabinettsvorlage vom 2. Februar 1977 wurde empfohlen, eine Standortentscheidung zwischen Gorleben und Lichtenhorst zu treffen. Nach zweimaliger Beratung entschied sich das Kabinett bei Anwesenheit der Fraktionsvorsitzenden im Niedersächsischen Landtag für Gorleben als „vorläufigen“ Standort einer „möglichen“ Anlage zur Entsorgung der bundesdeutschen KKW (Kernkraftwerke). In der Endphase wurden neben den vorher offen gebliebenen Fragen (bei Gorleben z.B. eine fündige Erdgasbohrung) strukturpolitische („strukturpolitischer Impuls“ der Investition) und praktische Überlegungen (Grundstückseigentumsverhältnisse, Benennung eines einzigen Standortes) erörtert.
5. Die Bedenken der Bundesregierung gegen Gorleben
Es handelten sich ausschließlich um deutschlandpolitische sowie außen-, verteidigungs- und sicherheitspolitische Erwägungen, wie etwa die Gefahr, dass die DDR auf ihrer Seite den Salzstock durch Bohrungen beinträchtigen könnte oder COCOM-Probleme (Coordinating Commitee for East West Trade Policy) wegen der Gefahr, dass die Anlage in einer „Handstreichaktion“ an den Osten fallen könnte. Geologische Argumente wurden von der Bundesregierung nicht gegen Gorleben ins Feld geführt. Aus den Ressortbesprechungen, an denen von niedersächsischer Seite der Leiter der IMAK teilnahm, hatten die Vertreter der Bundesministerien den Eindruck einer Präferenz Niedersachsens für Gorleben, was Bundeskanzler Schmidt bewog, den Versuch zu unternehmen, Ministerpräsident Albrecht durch persönliche Schreiben und ein Gespräch umzustimmen.
HINTERGRUND:
Grundlage für die Expertise von Dr. Anselm Tiggemann sind die Akten der Niedersächsischen Staatskanzlei, des Niedersächsischen Wirtschaftsministeriums, des Niedersächsischen Landesamtes für Bodenforschung sowie des Staatsarchivs. Daneben hat Dr. Tiggemann die bisherigen zeithistorischen Forschungsergebnisse als Quellen- und Literaturgrundlage herangezogen.
Die Studie „Gorleben als Entsorgungs- und Endlagerstandort – Der niedersächsische Auswahl- und Entscheidungsprozess“ finden Sie in der Anlage und unter: www.umwelt.niedersachsen.de
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28.05.2010